Kinderlähmung: Impfraten sinken – Infektionsrisiko steigt

Während das Risiko für eine Einschleppung von Polioviren steigt, haben sich die Durchimpfungsraten für Poliomyelitis (Kinderlähmung) bei Kindern in Österreich verschlechtert. 2021 wurden dem „Kurzbericht Polio“ des Bundesministeriums für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz (BMSGPK) zufolge fast 9% weniger Kinderimpfungen verabreicht. Die größten Lücken befinden sich bei den ganz Kleinen.

Nur noch 36% der unter Einjährigen erhielten die zweite Teilimpfung. Den vollen Impfschutz bietet erst die dritte Teilimpfung. Das BMSGPK geht davon aus, dass etwa 70.000 Kinder und Jugendliche in Österreich völlig ungeimpft sind und noch viel mehr keine vollständige Grundimmunisierung besitzen.

Es gibt drei Hauptformen von Polioviren: Typ 1, 2 und 3. Poliomyelitis betrifft am häufigsten Kinder unter fünf Jahren und kann zu teils dauerhaften Lähmungen führen. In schlimmen Fällen kann es zur Atemlähmung und zum Tod kommen. Bislang gibt es keine wirksamen Medikamente gegen diese Krankheit. „Viele Poliovirus-Infektionen verlaufen ohne Beschwerden oder verursachen nur grippeähnliche Symptome. Nur etwa einer von 200 Infizierten erleidet Lähmungen, sodass ein einziger Polio-Patient bereits auf eine weitläufige Verbreitung des Virus in der Gemeinschaft hinweist“, warnt Priv.-Doz. Dr. Hans Jürgen Dornbusch, Leiter des Referates Impfkommission der Österreichischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendheilkunde (ÖGKJ).

Verbreitung des widerstandsfähigen Virus durch Reisende

Polioviren (Picornaviridae-Familie) sind Krankheitserreger, die leicht durch Reisende importiert werden können. Diese kleinen Viren sind sehr widerstandsfähig und resistent gegen chemische Mittel. Sie können über einen längeren Zeitraum in der Umwelt überleben. Sie werden anfangs durch Tröpfcheninfektion aus den oberen Atemwegen, dann über Schmierinfektion durch mikroskopisch kleine Stuhlreste - insbesondere bei schlechter Hygiene - übertragen (mit dem Stuhl scheiden Infizierte große Mengen an Viren aus) und vermehren sich im Magen-Darm-Trakt. Die Virusausscheidung im Stuhl kann mehrere Wochen anhalten – auch bei Menschen, die keine Beschwerden zeigen.

„Die Häufigkeit von unbemerkten Infektionen, die große Anzahl ausgeschiedener Viruspartikel und die lange Dauer der Virusausscheidung stellen ein hohes Risiko für die Ausbreitung von eingeschleppten Polioviren unter ungeschützten und anfälligen Bevölkerungsgruppen dar“, fasst Priv.-Doz. Dr. Dornbusch zusammen.

Gefahr durch Wild- und Impfviren

Durch konsequente Impfprogramme konnten die Polio-Virustypen 2 und 3 vor einigen Jahren weltweit ausgerottet werden. Heute kommt die Kinderlähmung durch das Poliovirus Typ 1 nur noch in Afghanistan und Pakistan vor mit vereinzelten nach Afrika exportierten Fällen. Doch neben der Gefahr der Einschleppung von Polio-Wildviren von dort besteht das Risiko, dass mutierte Impfviren in den Umlauf geraten. Diese können sich nur bei der Gabe des Schluckimpfstoffs (Lebendimpfstoff) bilden und bei geringer Immunität in der Bevölkerung verbreiten. „Der orale Impfstoff findet in vielen ärmeren Ländern (z.B. in Afrika südlich der Sahara und Südostasien) Anwendung, da er leicht zu verabreichen ist, wenig kostet und sehr wirksam ist. In Österreich erhalten Kinder nur den inaktivierten Polio-Impfstoff (IPV / Totimpfstoff), bei dem diese Gefahr ausgeschlossen ist, der aber anderseits zwar vor der Erkrankung, nicht aber vor deren Verbreitung schützt“, klärt Priv.-Doz. Dr. Hans Jürgen Dornbusch auf.

Hohe Durchimpfungsraten verhindern Ausbrüche

Poliovirus-Ausbrüche in Tadschikistan (2010), Israel (2013) und der Ukraine (2015) haben bereits in der Vergangenheit gezeigt, dass geringe Durchimpfungsraten in der Bevölkerung ein erneutes Erscheinen der Kinderlähmung möglich machen. Dass hohe Durchimpfungsraten dies aber auf der anderen Seite verhindern können, belegt ein Fall in Spanien letztes Jahr. Dort stellte das Poliolabor im Nationalen Zentrum für Mikrobiologie (CNM) im September 2021 ein Impfstoff-abgeleitetes Poliovirus bei einem 5-jährigen Kind fest, das Anfang August 2021 aus dem Senegal nach Murcia, Südostspanien, gekommen war. Da alle Kontaktpersonen geimpft waren, trat kein weiterer Fall auf. In Spanien liegen die Durchimpfungsraten bei Polio in der Allgemeinbevölkerung bei über 95%.

Polen, Rumänien sowie die Ukraine sind besonders schutzlos

Dem European Centre for Disease Prevention and Control (ECDC) zufolge sind derzeit Polen und Rumänien sowie die Ukraine aufgrund der geringen Immunität der Bevölkerung besonders gefährdet, durch eingeschleppte Polioviren Ausbrüche erleben zu müssen.

Erster Fall in den USA seit 2013

Im Juli 2022 wurde bei einem ungeimpften erwachsenen Mann mit Lähmungserscheinungen in Rockland County nördlich von New York City Polio diagnostiziert. Es war der erste bestätigte Fall von Kinderlähmung in den Vereinigten Staaten seit 2013. Das New York State Department of Health erklärte, der Mann habe sich vor Ort angesteckt und das Virus nicht durch Reiseaktivitäten erworben. Bereits seit April wiesen Experten in Abwasserproben in New York City und in den Landkreisen Rockland, Orange und Sullivan Polio nach. Im August wurde das Virus im Abwasser von Nassau County auf Long Island (und auch in London) gefunden. „Dies weist auf eine steigende Anzahl von Ausscheidern hin“, verdeutlicht Priv.-Doz. Dr. Dornbusch. New Yorks Polio-Impfrate beträgt 79%. Der Gouverneur von New York City hat deshalb am 9. September den Katastrophenfall ausgerufen, um Impfmaßnahmen zügig umsetzen zu können. In Österreich werden derzeit noch keine systematischen Abwasseruntersuchungen auf Polioviren durchgeführt.

Grundimmunisierung besteht aus drei Teilimpfungen

Für den vollen Schutz benötigen Kinder drei Teilimpfungen. Diese sind wie die erste Auffrischimpfung kostenfrei. Die Impfungen sind im 3., 5. und 11.-12. Lebensmonat im Rahmen der Sechsfachimpfung  (Diphtherie, Wundstarrkrampf, Keuchhusten, Kinderlähmung, Hepatitis B, Haemophilus influenzae B) empfohlen. Eine Auffrischimpfung sollten Kinder dann als 4-fach-Impfung (Kinderlähmung, Diphtherie, Wundstarrkrampf, Keuchhusten) im 7.-9. Lebensjahr (idealerweise vor Schuleintritt), danach alle 10 Jahre verabreicht bekommen.

„Die Grundimmunisierung und die Auffrischimpfungen schützen vor dieser gefährlichen Krankheit, die wieder vermehrt zum Vorschein kommt. Sowohl Kinder als auch Erwachsene sollten sie zeitgerecht erhalten“, so der Appell von Priv.-Doz. Dr. Hans Jürgen Dornbusch.

Quellen

______________
Dies ist eine Pressemeldung der Österreichischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendheilkunde (ÖGKJ). Der Abdruck dieser Pressemeldung oder von Teilen des Artikels ist unter folgender Quellenangabe möglich: www.kinderaerzte-im-netz.at. Bei Veröffentlichung in Online-Medien muss die Quellenangabe auf diese Startseite oder auf eine Unterseite des ÖGKJ-Elternportals verlinken. Fotos und Abbildungen dürfen grundsätzlich nicht übernommen werden.