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Lernen: Es gibt bestimmte sensible Phasen für spezielle Fähigkeiten

Lange galt der Glaube, dass der Intellekt am besten bei kleinen Kindern gefördert werden könne, d.h., Kinder müssten früh etwas lernen, um darin erfolgreich zu sein.

© Deminos - Fotolia.com

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Bisher gingen Experten davon aus, dass die frühe Kindheit ein kostbares "Zeitfenster" oder eine "sensible Phase" für das Lernen ist, das sich langsam schließt, wenn wir das Jugendalter erreichen. Das sei beispielsweise ein Grund, warum Kleinkinder den Akzent einer Fremdsprache leichter als Heranwachsende oder Erwachsene erwerben könnten.

Neurowissenschaftlerin Professor Sarah-Jayne Blakemore vom Universitäts-College in London hat die letzten zehn Jahre damit verbracht, einige dieser Annahmen zu widerlegen und zu zeigen, dass das jugendliche Gehirn immer noch bemerkenswert flexibel ist, da es tiefgreifende anatomische Veränderungen erfährt. Im Teenageralter finden die stärksten Veränderungen im präfrontalen Lappen (Frontallappen oder Stirnlappen – er befindet sich hinter der Stirn) und im Parietallappen oder Scheitellappen (unter und knapp hinter der Kopfoberfläche) statt: Zwei Regionen, die am abstrakten Denken beteiligt sind.

Für analytische Fähigkeiten ist das späte Jugendalter die beste Lernphase

Ihre Untersuchungen zeigten, dass Jugendliche eine zweite sensible Phase durchlaufen, in der sie besonders auf bestimmte Arten der intellektuellen Stimulation reagieren. Die Fähigkeit, bestimmte analytische Fähigkeiten zu lernen, nimmt nach der Kindheit nicht ab, sondern im Gegenteil: Sie nimmt in der Jugend und im frühen Erwachsenenalter zu.

Das Team – unter der Leitung von Lisa Knoll - rekrutierte mehr als 600 Teilnehmer im Alter von 11 bis 33 Jahren und ordnete sie nach dem Zufallsprinzip drei Gruppen zu, die jeweils in einer anderen Fertigkeit ausgebildet wurden. Sie lehrten der ersten Gruppe " Numerosität", d.h., die Patienten sollten schnell die Anzahl der farbigen Punkte erraten, die auf einem Bildschirm erschienen. Sie hatten die zweite Gruppe in sogenanntem "Relationalen Schlussfolgern" geschult: die Fähigkeit, abstrakte Regeln und Beziehungen mit Hilfe von nonverbalen Puzzlespielen (sogenannte Raven-Matrizen) zu erkennen, die bei einigen IQ-Tests üblich sind. Die dritte Gruppe sollte ihre Fähigkeit, Gesichter zu erkennen, verbessern: Die Mitglieder dieser Gruppe beurteilten wiederholt, ob zwei in rascher Folge gezeigte Bilder dieselbe Person darstellten oder nicht.

Alle diese Fähigkeiten erfordern keine fortgeschrittenen Sachkenntnisse. Stattdessen bilden sie die Kapazität zu abstraktem Denken und Mustererkennung ab, die für viele akademische Aufgaben nützlich sein kann.

Die Online-Trainingssitzungen waren kurz, fanden aber häufig statt und dauerten maximal 12 Minuten pro Tag für 20 Tage. Die Teilnehmer wurden, kurz nachdem sie ihre letzte Sitzung beendet hatten und wieder ein paar Monate später mit den gleichen Puzzlespielen getestet, um zu sehen, ob sich die Probanden die Fähigkeiten angeeignet hatten.Leider waren die Ergebnisse der Teilnehmer der dritten Gruppe enttäuschend, ihre Gesichtserkennungsfähigkeit zeigte keine Verbesserung.
Aber für viele der anderen Teilnehmer zahlte sich die harte Arbeit aus: Diejenigen, die das relationale Denken und die Numerosität geschult hatten, schnitten alle gut ab. Basierend auf diesen Erfolgen untersuchten Blakemore, Knoll und Kollegen, ob diese Resultate vom Alter der Teilnehmer abhingen.
Nach bisherigen Annahmen hätte der größte Fortschritt bei den jüngsten Personen im Alter von 11 bis 13 Jahren gesehen werden müssen, da sie der Kindheit und der vermuteten „sensiblen Phase“ am nächsten kamen. Aber - wie die Psychologen erwartet hatten - profitierten die älteren Teilnehmer am meisten vom Training. Die Jugendlichen (im Alter von 16 bis 18 Jahren) verbesserten ihre relationale Denkweise um etwa 10%: fast doppelt so viel wie die jüngeren Teilnehmer. Sogar die Erwachsenen in der Gruppe tendierten dazu, besser abzuschneiden als die jüngsten der Gruppe, was darauf hindeutet, dass Menschen sich auch noch in den Zwanziger- und Dreißigerjahren auf diesen Gebieten steigern können.

Bei diesen analytischen Fähigkeiten war das „Zeitfenster“ noch weit geöffnet. Vielleicht beruht das auf der größeren Neuroplastizität in diesem Alter - der Fähigkeit, neue neuronale Schaltkreise im präfrontalen Kortex zu bilden, was Blakemore zuvor in Hirnscans beobachtet hatte. Das würde ihre Theorie unterstützten, dass wir mehrere empfindliche Zeiträume für verschiedene Arten von Fähigkeiten besitzen - abhängig von der Entwicklung des Gehirns zu diesem Zeitpunkt. Schließt sich ein Fenster, öffnet sich ein neues.

Es gibt jedoch noch andere mögliche Erklärungen. Vielleicht sind ältere Probanden mehr motiviert. Aber auch wenn die Forscher die Anzahl der abgeschlossenen Trainingseinheiten berücksichtigten, blieb das Ergebnis bestehen. Folglich bemühten sich die älteren Teilnehmer nicht mehr als die jüngeren.
Aber möglicherweise haben die Jugendlichen und Erwachsenen bessere kognitive Strategien für das Lernen entwickelt, die nicht notwendigerweise eine größere anatomische Plastizität widerspiegeln.
Die Experten konnten nicht sagen, ob diese Verbesserungen zu sinnvollen Veränderungen in anderen Lebensbereichen der Teilnehmer geführt haben. Blakemore und Knoll konnten zum Beispiel keine entsprechenden Verbesserungen im Arbeitsgedächtnis finden, und sie wissen nicht, ob diese abstrakten analytischen Fähigkeiten einer höheren Eignung für Mathematik oder Naturwissenschaften an Schule oder Universität entsprechen würden.

Dass die Adoleszenz eine faszinierende und potenziell fruchtbare Phase des intellektuellen Wachstums ist, konnte die Arbeit auf jeden Fall zeigen.

Quelle: The British Psychological Society: Research Digest, Psychological Science